Alternative Fakten für München

Tom Zwotausend © Alternative Fakten

Tom Zwotausend macht normalerweise Partys in München, die “Alternative Fakten” heißen. Jetzt macht er Kassetten-Sampler, die “Alternative Fakten” heißen. Vol 2 zeigt die Münchner Subkultur in all ihrer Vielfalt, Gereiztheit und Witzigkeit – und will München aus den Brezel-Handschellen befreien.

München, das ist Breze, Helles, Isarstrand, ist BMW, FCB, Oktoberfest. Und kaum eine andere Stadt entspricht so sehr ihrem eigenen Klischee wie München. Weil das Image von den Bewohnern so bereitwillig aufgenommen und performt wird, dass es zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung gerät, zu einem Fakt wird mit erdrückender Wirkmacht, der Hand in Hand mit dem ökonomischen Druck mittlerweile auch die letzten subkulturellen Enklaven der Stadt bedroht. Seit Ende 2018 präsentiert der Münchner DJ und Veranstalter Tom Bauer aka Tom Zwotausend alternative Fakten zu diesem weit verbreiteten Bild von München – mit der monatlichen Party-Reihe “Alternative Fakten” und, seit das nicht mehr geht, mit Kassetten-Samplern unter dem gleichen Namen.

Das erste “Alternative Fakten”-Tape war noch ohne Wissen um die Pandemie entstanden, versammelte DJs und Bands, die auf den Partys aufgelegt oder gespielt hatten. Als es veröffentlicht wurde, war die erste Welle in vollem Gange, der erste Lockdown hatte die Kultur stillgelegt. Und so wurde das Tape auch zum Lebenszeichen und Manifest von Clubkultur, nicht kommerzieller Musik und Underground.

München, wie es fiept und kracht

Jetzt erscheint “Alternative Fakten Vol 2” – wieder auf Kassette, diesmal aber schon entstanden unter dem Eindruck von Pandemie, Lockdown und Hygienedemos. Der Sampler erweitert den Kreis der beteiligten Musiker und Musikerinnen über den der Party-Reihe hinaus: Von elektronisch und dubbig über krautig bis neuedeutschewellig und punkig, von bekannten Namen des Münchner Underground bis zur Newcomer-Band ist alles dabei – und besonders viel von allem, was in München quietscht und fiept und kracht und kreischt.

Diese Seite Münchens einmal sichtbar zu machen, war die Motivation hinter dem Sampler, sagt “Alternative Fakten”-Macher Tom Zwotausend, der das Tape zusammengestellt und auch selbst einen Track beigesteuert hat: “Es gibt sehr viele gute Menschen hier, die gute Dinge tun. Dieses Tape ist auch ein Zeichen dafür, dass es wirklich sehr viel Gutes gibt. Man muss es vielleicht nur finden oder muss das mal zusammenbringen und darstellen.” Der langfristige, augenzwinkernd größenwahnsinnige Plan hinter der Party-Reihe und den Kassetten-Samplern zeigt sich schon im Namen “Alternative Fakten”, denn, so Tom Zwotausend: “Dieser Name ist auch ein bisschen humoristisch zu verstehen. So: Wenn die Querdenker es schaffen, krasse Lügen als bare Münze verkaufen zu können, dann schaffen wir es auch, München aus den Brezel-Handschellen zu befreien und als Subkultur-Stadt darzustellen.”

Neuentdeckungen und bekannte Namen

Und so steuert die aus dem Akademie-Umfeld kommende Band WLAN ihren ersten Song überhaupt bei, eine humoristisch-psychologische Betrachtung über das “Ego”, die an Bands aus der ersten Welle der Neuen Deutschen Welle erinnert. Bisher ebenso unbekannt dürfte Rolf Eiswürfel sein, der mit einem druckvollen Elektro-Track mit Maschinenstimme dabei ist. Neben Neuentdeckungen wie diesen finden sich bekanntere Namen, etwa Sebastian Schnitzenbaumer aka BELP, der einst München verklagte und die “Monokultur”-Diskussionen um die Probleme der Subkultur in München maßgeblich vorantrieb, und hier (zusammen mit Seb-I) ein Dub-Stück mitbringt. Der DJ und Produzent San Quentin ist mit einem düsteren Techno Track vertreten, Thur Deephrey, u.a. Veranstalter der Party-Reihe Psychedelic Porn Funk, mit einem nostalgischen HipHop Instrumental. Tom Zwotausend selbst eröffnet den Reigen mit einer musikalisch unterlegten Collage der wirren Äußerungen einer Reihe Querdenken-Demonstranten.

“Begegnung ist das, was das Leben lebenswert macht”

Und so ist “Alternative Fakten Vol 2” wie schon der Vorgänger auch ein Reminder, wie wichtig und packend Musik und Subkultur sind. Nicht nur, weil Musik, das wird jetzt schmerzlich deutlich, dafür gemacht ist, gemeinsam gehört und erlebt zu werden. Sondern, so Tom Zwotausend, weil ohne Party und Nachtleben dem Leben und der Gesellschaft ein ganz wesentlicher Teil fehlt: “Diese Begegnung, dieses kollektive Rauschen, dieses Erleben von Kultur ist eigentlich das, was das Leben lebenswert macht. Man kann sich natürlich auch den hundertsten Stream reinziehen und noch eine Staffel von irgendwas rein-bingen auf Netflix. Aber im Endeffekt ist doch diese Begegnung und dieses Kulturleben das, was das Leben lebenswert macht und was einen letztlich auch gesund hält, was einen auf neue Ideen bringt und was eine Gesellschaft vorvorwärtsbringt.”

Die Gesellschaft vorwärts zu bringen wäre bitter nötig: Rechte Umtriebe und rechter Terror, Querdenker und Verschwörungsmystiker bedrohen längst die Demokratie – und ganz konkret Menschen. Von der Krise als Chance ist nicht mehr viel zu hören, und es schaut nicht so aus, als ob etwa auf das Klatschen für Pflegekräfte auch handfeste Verbesserungen im Lohn und den Arbeitsbedingungen dieser Menschen folgen würden. Zumindest für die Subkultur in München, das zeigt dieser Blick durch den Türspalt in die Welt nach Corona, schaut es allerdings trotz aller Widrigkeiten gar nicht so übel aus: So vielfältig, lebendig und kratzig hat sie sich lange nicht mehr präsentiert.

“Alternative Fakten Vol. 2” gibt es als Kassette via Bandcamp. Zum Release gab es einen Livestream auf United We Talk mit Diskussion über die Lage von Subkultur allgemein und in München.

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