Warum es bigott ist, bei Gorillas zu bestellen

© picture alliance/dpa | Wolfgang Kumm

Für Gleichberechtigung sein, gegen Rassismus – aber kein Problem damit haben, sich Einkäufe in Minutenschnelle liefern zu lassen. Das geht für mich nicht zusammen.

Klar: Ich bestelle auch ab und zu eine Pizza oder ein Buch. Gerade während der Pandemie. Tatsächlich aber nicht bei Lieferando oder Amazon – die Probleme sind bekannt. Lieferdienste wie Gorillas, Flink oder Getir treiben das Prinzip aber auf die Spitze und wollen “in wenigen Minuten” (Flink), “in zehn Minuten” (Gorillas bisher) oder “in Minuten” (Gorillas neuerdings) an der Wohnungstür sein. Ernsthaft? In der Zeit soll ein “Picker” den Einkauf zusammensuchen und einpacken, ein “Rider” vom Lager zur Wohnungstür hetzen? In welcher existentiellen Lebenssituation muss man sein, dass die Lieferung des Einkaufs oder Essens nicht locker eine halbe Stunde Zeit hat? Aber vor allem: Wem bitte erschließt sich nicht sofort, dass dieses Minuten-Versprechen die Arbeiter*innen unter einen krassen Zeitdruck setzen? Wer möchte selbst so arbeiten – und, falls die Antwort lautet: “Ich nicht”, warum mutet man es anderen zu?

Auf dem Klassen-Auge blind

Was mich besonders irritiert: In meinem Umfeld sind es durchaus konsumbewusste, linksliberale, “woke” Menschen, die kein Problem mit dieser Art modernem Dienstbotentum haben, wie der Soziologe Oliver Nachtwey es nennt. Man kauft im Bioladen ein oder zumindest die Bio-Produkte beim Discounter, spricht eine diskriminierungsfreie Sprache, akzeptiert jede Art von Sexualität und Beziehungsmodell, kauft Handys, Möbel und Klamotten Second Hand. Man ist gegen Rassismus, Sexismus und jede andere Form von Diskriminierung.

Kurz: Man bemüht sich, soweit das im Privaten eben geht, ein möglichst korrektes Leben zu führen, das Kunststück vom richtigen Leben im falschen doch irgendwie hinzubekommen. Und hat dann aber kein Problem damit, völlig ohne Not bei diesen Ausbeutungswölfen im Startup-Pelz zu bestellen. Der Blinde Fleck eigene Klasse? Wird, wie so oft, die ökonomische Not ausgeblendet? Nicht nur Nachtwey, auch andere Armutsforscher sagen, viele Menschen übersehen die Diskriminierung aufgrund der Lebensmodelle, die sie aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit als “normal” empfinden. Ja, man will noch nicht einmal wahrhaben, dass wir auch in Deutschland in einer Klassengesellschaft leben – obwohl deren Konturen immer stärker hervortreten.

Ausflüchte und Rechtfertigungen

Als Rechtfertigung heißt es oft: Das seien für die Leute willkommene Kurzzeit- und Nebenjobs, eine unkomplizierte Art für Stundent*innen, Internationals und andere Geld zu verdienen. Mag sein, aber warum dürfen diese niedrigschwelligen Jobs nicht auch einigermaßen entspannt sein? Warum müssen es Shit Jobs sein, wie David Graeber sie genannt hat? Reicht es nicht, dass die Jobs schlecht bezahlt sind (10,50 Euro die Stunde sind es derzeit bei Gorillas)?

Man wisse ja gar nicht, ob die Jobs wirklich so stressig und shitty sind, lautet eine weitere Ausflucht. Spätestens seit den öffentlichkeitswirksamen Streiks der Berliner Gorillas-Belegschaft diesen Sommer zieht dieses Argument aber nicht mehr. Schlechte Bezahlung, mangelnde Ausrüstung und Arbeitsschutz, unsichere Anstellungsverhältnisse waren einige der Vorwürfe. Ähnliches bei Lieferando: 15 Euro Stundenlohn, gutes  Equipment und Respekt lauten hier die Forderungen.

Gegen den vehementen und arbeitsrechtlich zweifelhaften Widerstand des Managements haben die Gorillas-Arbeiter zuletzt einen Betriebsrat durchgesetzt. Und was macht der Lieferdienst? Überlegt, jedes Lagerzentrum als Franchise auszugliedern – sodass dann in jedem Lagerzentrum ein Betriebsrat erkämpft werden müsste. Wenn es noch einen Beweis gebraucht hat, dass die ach so hippen Startups nicht weniger raubtierkapitalistisch agieren als große Player wie Amazon,  ist er jetzt da.

Verdrängtes Wissen um die Probleme

All das weiß man nun, oder könnte es wissen – wenn man es denn wissen wollte. Und man hätte es eigentlich von Beginn an ahnen können: Wenn der Weg vom Lager bis zur Haustür in zehn Minuten kaum zu schaffen ist, welchen Arbeitsdruck haben die Fahrer*innen dann wohl? Wenn der Einkauf nicht wesentlich teurer ist als im Supermarkt, welchen Lohn bekommen die Arbeiter*innen dann wohl?

Diese leicht zu beantwortenden Fragen zeigen aber auch einen Ausweg aus dem Dilemma auf: Bessere Arbeitsbedingungen, mehr Arbeitsschutz, Arbeiter*innenvertretungen, höhere Löhne. Das würde helfen, aus ausgebeuteten Dienstboten wenigstens Dienstboten zu machen, die ihren Job gern und mit einigem Stolz machen – und denen man an der Haustür ohne Scham in die Augen schauen könnte.

Solidarität statt individueller Schuld

Denn natürlich kann es nicht darum gehen, einmal mehr die Verantwortung für strukturelle Probleme auf die individuellen Konsument*innen abzuwickeln. Gerade Familien, in denen beide verdienen (müssen – aber auch wollen) und für die schon das Begriffspaar “Vereinbarkeit von Beruf und Familie” ein Hohn ist, werden oft genug regelrecht aufgerieben beim Versuch, Job, Kind, Haushalt und Zeit füreinander unter einen Hut zu bringen. Für viele wäre das schlicht nicht zu schaffen ohne ausgelagerte Bedienstete wie Putzfrauen, Erzieherinnen und eben Lieferboten aller Art. Gleichzeitig kann die Lösung nicht ein Zurück zum Modell der Hausfrauenehe und des Großfamilienhaushalts sein, in denen die Frau den Haushalt schmeißt und Großeltern die Kinderbetreuung übernehmen. Damit sich strukturell etwas ändert, muss es aber erst ein Bewusstsein für das Problem geben. Deswegen sollten wir nicht länger wegschauen und verdrängen, uns nicht länger in Rechtfertigungen flüchten. Sondern anerkennen, dass es problematisch ist, sich seinen Einkauf in wenigen Minuten liefern zu lassen. Und sich solidarisch zweigen mit den Arbeitskämpfen des modernen Dienstbotentums.

Dieser Artikel erschien zuerst am 10.12.2021 auf der BR Kulturbühne, die Ende 2022 eingestellt wurde.

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