Brutal, sexistisch, homophob: So lautet das gängige Urteil über deutschen Gangstarap. Der Soziologe Martin Seeliger hat ein Buch geschrieben über das Problem-Genre. Er hat mir erzählt, warum Deutschrap deutlich mehr zu sagen hat über das Leben von Migranten und ihren Nachfahren hierzulande – und über die deutsche Mehrheitsgesellschaft.
Hardy Funk: Deutscher Gangstarap wird gemeinhin als verroht, gewaltverherrlichend, sexistisch und auch tendenziell antisemitisch und homophob eingestuft. Sie sagen: Es ist ein sehr politisches Genre mit emanzipatorischen Aspekten – inwiefern?
Martin Seeliger: Verrohung und Antisemitismus sind ja für sich schon politische Themen. Wenn wir in einer Gesellschaft leben wollen, in der die allgemeinen Menschenrechte gelten, und dazu zählt Antidiskriminierung genauso wie körperliche Unversehrtheit, dann ist Gangstarap politisch, weil er womöglich das Gemeinwohl gefährdet. Dann kommt man aber in die nächste Debatte rein, denn wenn man sagt: Pass mal auf, Kollegah, das, was du da rappst, ist menschenfeindlich – da würde der sagen: Du verstehst das nicht, das ist Kunst. Dann haben wir den nächsten politischen Disput. Die Gegenseite zu dieser negativen Politisierung ist vielleicht diese Aneignung der Sprecherrolle, die Gangstarapper praktizieren. Da steckt einerseits natürlich das menschenfeindliche Moment drin, andererseits ist es ein Ton vom Rande der Gesellschaft, eine migrantische Identitätsbehauptung. Gangstarapper treten nach unten und nach oben gleichzeitig.
Zunächst schildert Gangstarap ja die Lebensrealität dieser marginalisierten Gruppen, die keine Stimme haben und nicht in dem Maße sozial teilhaben können an der Gesellschaft wie andere.
Sie beanspruchen die Sprecherrolle. Ob das die Lebensrealität der, wie man das in so einem linkssoziologischen Jargon sagt, migrantischen Subalternen abbildet, darüber ließe sich sicher auch streiten. Klar, da geht es um Armut, um Anerkennungsdefizite. Aber ob die logische Konsequenz daraus ist, dass man sagt: Ich werde Drogendealer oder Bankräuber um meiner Familie ein Auskommen zu bieten und attraktiv für Frauen mit Silikontitten zu sein – das ist eine andere Frage. Da wird es auch viele geben, die das nicht so sehen.
Inwiefern ist Gangstarap dann eine Reaktion auf Marginalisierungen? Hauptsächlich machen ja Migranten und Nachfahren von Migranten Gangstarap – und damit Gruppen, die lange Zeit und auch heute noch auf viele Weise gesellschaftlich ausgeschlossen und als „fremd“ markiert werden, im Diskurs, aber auch im Alltag und was Lebensperspektiven allgemein angeht. Ist das Genre eine Reaktion auf diese Ausschlüsse?
Genau das ist es. Es wäre ohne das gar nicht möglich: Wenn wir nicht diesen Krisendiskurs um migrantische Männlichkeit hätten, dann würden diese Klischees, die die Gangstarapper bemühen, ja gar keinen Sinn machen. Diese Bilder und diese Stigmatisierungserfahrungen, die auf deren Grundlage gemacht wurden, die waren schon vorher da und da schließen die Gangsterrapper jetzt an. Das ist der symbolische Rohstoff, aus dem das gemacht wird.
Und das hat vielleicht auch eine empowernde Komponente?
Absolut. Aber nur, weil sich einer empowert und eine Sprecherposition aneignet, zielt das, was er macht, nicht auf eine allgemeine Gleichstellung. Man kann sich emanzipieren ohne gerecht zu werden. Wenn ich sage, das Ticket, auf dem ich meine Sprecherrolle gewinne, ist eine materialistische, martialische und rücksichtslose, homophobe, misogyne Konzeption von Männlichkeit, dann ist das empowernd, aber nicht unbedingt allgemein emanzipatorisch.
Sie schreiben, Gangstarap hält der Gesellschaft nicht etwa den berühmten Spiegel vor, sondern einen Zerrspiegel – was wird gespiegelt und wie wird es verzerrt?
Der Gangstarapper ist eine Figur, die an der Schnittstelle von drei Kategorien zustande kommt: Klasse, Ethnizität und Geschlecht. Und entlang dieser drei Achsen wird das verzerrt. Klasse wird dargestellt als eine zu überwindende Grenze: Früher waren sie am unteren Ende der sozialen Strata und jetzt fahren sie mit einem Premiumsegment-Auto raus aus dem Ghetto. Das ist alles stark übertrieben. Bei der Ethnizitätsachse ist das ähnlich: Die Gangstarapper greifen ein Bild auf, das von den Medien gemacht wurde, von einem kriminellen jungen Mann mit Migrations- und ohne Bildungshintergrund, der unsere Gesellschaft zersetzt. Die dritte Form der Überzeichnung ist die Hypermännlichkeit. Gangstarapper sind total potent und kultivieren hegemonial-männliche Eigenschaften wie Durchsetzungsfähigkeit, Leistungsfähigkeit, Wehrhaftigkeit, Hypersexualität und so weiter. Das sind Verzerrungsmomente, deswegen ist Rap kein Spiegel der Gesellschaft, sondern ein Zerrspiegel in der Gesellschaft.
Sie sagen, Gangstarap greift eine hegemoniale, also heutzutage als Norm und Ideal angesehene Männlichkeit auf, diesen Manager-Typ. Wenn ich Sie richtig verstehe, präsentieren Gangstarapper aber kein Gegenstück, keinen konkurrierenden Vorschlag von Männlichkeit, sondern eine Übertreibung dieses Manager-Typs?
Ja, das ist so. Die setzen eben noch einen drauf, die haben’s nicht von der Mitte nach Oben geschafft wie Josef Ackermann. Der hat in St. Gallen BWL studiert. Das hat Haftbefehl nicht. Dessen Vater hat sich umgebracht und Haftbefehl hatte diese Möglichkeiten nicht, er musste anders nach oben kommen. Und das, so sagt er, war wesentlich aufwändiger, wesentlich anstrengender. Deswegen ist er sozusagen der krassere Typ, der leistungsfähigere Mann. Das ist immer ein zentrales Element in diesen Darstellungen.
Auf der anderen Seite nennen Sie Schwesta Ewa als Beispiel für – eher die Ausnahme –, eine Frau im Gangstarap, eine Frau, die aus der Prostitution kommt. Sie sagen, auch das ist empowernd, dass sie eine Sprecherposition erobert hat für Frauen in dieser Position.
Julia Reuter und Tina Bifulco haben in unserem Band “Deutscher Gangstarap II” geschrieben: Das ist eine Herausforderung für den Feminismus, weil der so vor dem Problem steht, ob und wie er sich auch für solche Entwürfe wie den von Schwesta Ewa öffnet. Ein intersektionaler Feminismus: Muss der auch jemanden wie Schwesta Ewa irgendwie abbilden? Was danach passierte, war, dass Schwesta Ewa des Menschenhandels bezichtigt wurde. Das macht die Frage noch schwerer.
Wie erklären Sie sich denn, dass, obwohl die Gangstarapper die Situation ganz gut beschreiben und da auch Kritik üben, zum Teil sogar bei der Politik, der Ausweg trotzdem immer ein individueller ist. Da steckt doch eine sehr neoliberale Idee dahinter: Jeder kann es schaffen, wenn er sich nur anstrengt.
Marcus Staiger hat mal gesagt, das ist Klassenkampf ohne Klassenbewusstsein. Das ist ein gutes Bild dafür. Aus einer politischen Sicht kann man das durchaus so sagen. Die Gangstarapper sind viel zu hart und zu unabhängig, als dass die für irgendetwas jemals Hilfe benötigt hätten. Die konnten sich wahrscheinlich als Kinder schon die Schuhe zubinden, die mussten das nicht lernen.
Man geht ja in Deutschland oft von einer klassenlosen Gesellschaft aus, von so einer nivellierten Mittelschicht und will gar nicht wahrhaben, dass es auch bei uns Klassen gibt, redet auch lieber von „Schichten“ als von „Klassen“. Man möchte auch immer noch nicht wirklich wahrhaben, dass man ein Einwanderungsland ist, zumindest große Teile der Bevölkerung wollen das nicht. Offenbar verdrängt die Gesellschaft da ganz viel, was aber immer mehr durchbricht. Auch die Brutalität des Neoliberalismus und des Kapitalismus wird immer deutlicher. Inwiefern ist Gangstarap auch eine Art Wiederkehr des Verdrängten?
Können Sie das als Überschrift machen: Die Wiederkehr des Verdrängten – wie der Gangstarap die vom Kapitalismus verdrängten Brutalitäten an die Oberfläche bringt, oder so? Nein, im Ernst: Das klingt so übertrieben, aber es ist ja genau das. Da kommen Sachen zum Vorschein, über die man nicht reden will. Das ist ja auch das Faszinierende: Die einzige Möglichkeit, das zu thematisieren, ist, indem Sie diese Figur des Gangstarappers zumindest ein bisschen bedienen. Man sieht das gut an “4 Blocks”, dieser Serie. Im Prinzip werden da viele Probleme thematisiert: Der verschlossene Arbeitsmarktzugang, die Diskriminierung im Bildungssystem, die ethnische Segregation in der Stadt. Das geht aber nur, indem die eine Serie über Clan-Kriminalität machen und am Ende wieder diesen Topos der kriminellen Familie bedienen. Wenn man eine Serie über arabische Großfamilien machen würde und die eine ist BWL-Studentin, der andere hat eine Bäckerei und der Großteil der Familie ist relativ langweilig, weil die sich mittlerweile sehr wohl ganz gut eingepasst haben in diese Gesellschaft – dann würde das doch niemand gucken! Man kann diese Sachen nur thematisieren, indem man die Klischees zumindest ein bisschen bedient.
Es gibt ja auch unterschiedliche Bewertungen von Verbrechen, wenn man an Steuerhinterziehung denkt etwa – was meistens als Kavaliersdelikt abgetan wird.
Ich weiß immer nicht, wie ich das Argument machen soll – aber es ist natürlich schon bemerkenswert, wie viel wir über diese Shisha-Bars als Horte des Bösen reden, weil da alle paar Wochen mal vierzehn Kilo unverzollter Tabak gefunden werden. Und wie wenig wir über Cum-Ex sprechen oder über Wirecard oder über die Maskendeals bei der CDU – das ist schon alles sehr auffällig. Diese Sachen sind natürlich viel peinlicher für unseren sozialen Rechtsstaat. Da redet man dann lieber über so ein paar gefährliche Araber, die hier die soziale Ordnung gefährden mit ihrem devianten Verhalten. Das ist ein Problem.
„Soziologie des Gangstarap. Popkultur als Ausdruck sozialer Konflikte“ von Martin Seeliger ist im Verlag Beltz Juventa erschienen.
Dieses Interview erschien ursprünglich am 16. Juli 2021 auf der (mittlerweile eingestellten) Website BR Kulturbühne vom Bayerischen Rundfunk.
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